Mittwoch, 24. Mai, kurz nach zehn Uhr morgens
Wir hatten gerade Besuch. Eines meiner Vorhaben hier in Kuba ist es, mit der hiesigen jüdischen Gemeinde aufzunehmen. José Portuondo, unser kubanisch-amerikanischer Berater aus Boston, der uns auch die Herberge von Katya und Maikel empfohlen hatte, rief hier an um uns eine Telefonnummer durchzugeben, unter der der templo judio in Santa Clara zu erreichen sei. Die Nummer war nicht mehr aktuell. Anstelle der jüdischen Gemeinde meldete sich ein Privatmensch, der behauptete, er wisse von nichts. Maikel zeigte mir auf der Karte, wo der templo zu finden sei, und gestern nachmittag lief ich dorthin und fand problemlos das kleine Haus mit dem Davidstern und Buntglasfenstern auf der 1era Calle, reparto La Vigía. Die Tür war zu.
Es hatte gerade fürchterlich geschüttet und andere Türen in der Nachbarschaft waren auch zu. Ich klopfte am Nachbarhaus. Dort öffnete nach einer Weile eine alte Dame die Tür. Ich fragte sie in meinem radegebrochenen Spanisch, ob sie wüsste, wer hier in der Nachbarschaft mit der Synagoge in Verbindung stehe. Sie meinte, ich sollte die Straße hinauf und dann rechts fragen. Dort sei eine jüdische Person. Ich ging die nächste Straße rechts und fragte eine Dame, die dabei war, Regenwasser vom Eingang wegzuputzen. Sie nannte mir den Namen “Tache” und wies mich in dieselbe Richtung wie die alte Dame. Ich fragte noch zweimal und landete schließlich vor dem richtigen Haus. Inzwischen hatte ich herausgefunden, dass Herr Tache Mediziner war. Seine Schwester kam zur Balkontür, kam dann herab und öffnete mir die Haustür nachdem ich so ungefähr erklärt hatte, was ich wollte. Ihr Bruder sei Präsident der jüdischen Gemeinde in Santa Clara aber er wohne nicht hier und seine Telefonnummer könne sie mir nicht geben. Sie nahm aber meinen Namen und die Nummer des Gästehauses entgegen und versprach ihren Bruder zu verständigen. Der werde sich dann bei uns melden.
So war es auch. Scheinbar hatte er gestern noch hier angerufen und bei Maikel nachgefragt, wer wir seien und was wir wollten. Er fragte dann, ob wir etwas mit José Portuondo zu tun hätten. Als Maikel dies bestätigte, muss er sich wohl gleich unfreundlich geäußert haben, so im Sinne von „Auch das noch!“ Maikel erzählte uns davon erst später. Heute morgen also saß ich hier unten im Atrium und las Fackenheim, da kam Herr Dr. Tache, ein etwas dickleibiger Herr um die Sechzig mit gelbem Polohemd, Brille und Umhängetasche. Wir stellten uns einander vor, Miriam kam dazu, ich sagte, sie könne Spanisch, ich leider nicht, und wir setzten uns an den Tisch. Bevor ich noch irgendetwas sagen konnte hatte er in Richtung Miriam bereits die Prüfungsfragen gestellt, von deren Antworten es abhing, ob er weiter etwas mit uns zu tun haben wollte.
Die erste Gretchenfrage, von der die Richtung des folgenden Gesprächs abhing, lautete, ob wir mit einer jüdischen Gemeinde verbunden seien. Dadurch wollte er zunächst feststellen, ob wir jüdisch sind Als Miriam ehrlich antworten wollte, nein, unterbrach ich und sagte ja, mit einer rekonstruktionistischen Gemeinde. Das war, trotz Miriams ungläubigen Blick, nur ein wenig geflunkert, da wir früher einer solchen angehört hatten, und ich wusste, dass es unserem Gegenüber nicht um Einzelheiten ging. Das ging also noch in Ordnung. Die nächste Frage lautete: Wie haltet ihrs mit Israel? Diesmal antwortete Miriam ohne von mir unterbrochen zu werden und es entspann sich eine kurze aber heftige Diskussion. Miriam merkte zu spät, dass sie unserem Gesprächspartner ins Messer gelaufen war. Er wollte uns als miese unpatriotische Juden „outen“, denn als solche hatte er uns schon deshalb eingeordnet, weil wir, wie er bereits wusste, mit José befreundet waren. Jedenfalls stand Dr. Tache, nachdem er sich von unserem Mangel an jüdischem Solidargefühl überzeugt hatte, auf und ging mit dem Urteil, er wolle mit uns nichts zu tun haben. Das war’s. Miriam und Sr. Tache standen auf und stampften in unterschiedlichen Richtungen davon, sie verärgert nach oben, um sich von dieser völlig unvorhergesehenen Attacke zu erholen, und er theatralisch zum Ausgang. Ich blieb ohne ein Wort gesagt zu haben sprachlos am Tisch zurück. Das wars. Kein Kontakt mit der jüdischen Gemeinde für uns.
Katya erklärte uns später, dass er mit José ähnlich verfahren war. Als Maikel den Gemeindepräsidenten nach einem gleichermaßen misslungenen Gespräch hinausbegleitete, meinte Tache noch, „un rabbino maricon? Sein Vater würde sich im Grab umdrehen.”
Weshalb die Feindlichkeit? War es Josés unverhohlene Homosexualität die ihn anwiderte und gegen ihn einnahm? Oder fühlt der gute Mann, dass Josés Interesse am Wiederaufbau der jüdischen Gemeinde in Kuba seine Privilegien bedroht? Wieso nimmt er Miriams kritische Einstellung zur israelischen Regierungspolitik als Rechtfertigung, uns den Kontakt zur jüdischen Gemeinde von Santa Clara vorzuenthalten. Er war offensichtlich schon gegen uns voreingenommen und kam nur vorbei, um seine Vorurteile gegen uns zu bestätigen. Kein netter Mann, meinte Maikel abschließend. Womöglich auch paranoid. Unter der älteren Generation der regimetreuen Kubaner herrscht immer noch Angst vor amerikanischen Spionen. Ein Eindruck von der ideologischen Abschottung, die den Touristen sonst vorenthalten wird. Wir erhielten später, in Santiago de Cuba, einen besseren Eindruck von der hiesigen jüdischen Gemeinde. Die mißlungene Begegnung mit Dr. Tache blieb, abgesehen vom miesen Essen, unser einziges negatives Kubaerlebnis.
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trunnion ball valve posted on August 26, 2022 at 2:19 am
Merkwürdiger Besuch | Michael Zank1661494789