Im Telekommunikationsmuseum auf der La Zanja (nähe Chinator; Chinesen stellten einen statistisch zu Buche schlagenden Anteil an der vor-revolutionären Bevölkerung Kubas dar) gab es eine Etecsa Verkaufsstelle, wo wir eine Telefonkarte für unser indisches Telefon erwerben konnten. Die Karte ist gut für fast ein Jahr, viel länger als wir sie brauchen. Ein gutaussehender dunkelhäutiger Mann mittleren Alters mit Fahrradtaxi (bici) – muskulös, kenntnisreich, und rednerisch begabt – bot an, uns die Stadt zu zeigen. Wir unterhielten uns eine Weile, lehnten schließlich dankend ab, schrieben aber für alle Fälle seinen Namen und seine Adresse auf. Vielleicht nehmen wir ihn später noch in Anspruch. (Dazu kam es nicht.)
Gestern sind wir noch viel und lange gelaufen: Habana Vieja, Malecon, Vedado. Am Ende nahmen wir ein Taxi nach Hause, einen himmelblauen Bel Air, ca. 1956, mit Dieselmotor und wer weiß was für einem Fahrgestell. Die Federung dieser alten Straßenkreuzer besteht oft nur aus purer Einbildung und Fensterheber dienen oft nur zur Zier. Die Türen lässt man am besten von den Fahrern öffnen und schließen.
Unterwegs nach Alt-Havanna setzten wir uns in einem Park in der Nähe des Vorzeigehotels Inglaterra und dem Palacio für einen Moment in den Schatten. Dort sprach uns ein älteres Ehepaar freundlich an, die sich als Zeugen Jehovas vorstellten. Der Herr verwickelte Miriam in ein Gespräch über Kanada, das er wohl früher gelegentlich besucht hatte. Dann bat er uns um einen Kugelschreiber (boli, kurz für boligrafo) für seine Frau, weil doch gerade Muttertag sei. Die Dame saß daneben und lächelte charmant. Ich holte einen Stift aus dem Rucksack, aber er wollte gerne noch einen zweiten, für sich selbst. Wir hatten schon vorher davon gehört, dass es Sinn mache, Kugelschreiber und mechanische Bleistifte mitzubringen. Kleine aber hier schlecht zu bekommene Gegenstände lassen sich gut tauschen und verkaufen. Ein so trivialer Gegenstand des täglichen Lebens wie ein Gasfeuerzeug aus Plastik wird hier nicht etwa weg geworfen, wenn es leer ist, sondern nachgefüllt und gegebenenfalls repariert, auch wenn das vom Hersteller so nicht vorgesehen ist.
In Alt-Havanna hatte man uns die Mojitos in der Bodegita del Medio empfohlen. Die Aussicht auf das Getränk trieb uns voran. Vor der Bodegita fanden wir eine große Ansammlung von Touristen. Die Bar ist berühmt wegen Hemingway, der überall in Kuba bekannt ist und wegen seiner Sympathie für Kuba und die Revolution zum Inventar der ubiquitären Propaganda gehört. Die Zeit scheint hier wie stehengeblieben.
Wir schauten uns im Barraum um, zu dem uns ein riesenhafter Rausschmeißer den Weg gewiesen hatte. Eine Musikgruppe machte gerade Pause, während der Barmann eine Reihe von Mojitos zubereitete und etliche eisgekühlte Bierflaschen aus einem altmodisch holzgetäfelten Kühlschrank holte. Das machte uns Lust auf Bier, wozu wir Hemingway nicht brauchten. Wir machten uns auf die Suche nach einer weniger überlaufenen und besser belüfteten Gaststätte, die wir nach einigem Herumgelaufe im Café Paris fanden. Dorthin zogen uns die Klänge einer ersten von unzähligen Buena Vista cover bands. Miriam bestellte den obligatorischen Mojito und ich eine Cerveza El Presidente; importiert, denn das einheimische Crystal war ihnen ausgegangen. Wir tranken beide von beidem und freuten uns auf die Musik. Die Musiker machten zunächst eine Pause. Nach einer Weile ging es noch einmal los. Gute Stimmung. Die Kellner in ihren Guayaveras sangen mit. Ein begeisterter Kubaner, dunkelhäutig, arm und betrunken, sang von der Tür aus begeistert mit. Dem setzte ein hühnenhafter Rausschmeißer ein Ende. Wir hörten noch ein wenig zu und brachen dann auf, zurück zum Quartier. Der angekündigte Regen brach erst los als wir dort ankamen. Zeit zum Ausruhen.
Wir zogen nach fünf wieder los, genossen den Sonnenuntergang am Malecon, wo wir lange einem Paar von Pelikanen zusahen, die sich abwechselnd auf ihre wässrige Beute stürzten und dann wieder eine Weile ihre Federn in der Sonne trockneten. Wir suchten nach einem Restaurant in Vedado, das uns jemand empfohlen hatte. Gato Prieto war jedoch geschlossen. Das machte nichts, denn wir hatten noch eine andere Empfehlung, am anderen Ende von Vedado und wir hatten unser Telefon. Zur Orientierung benutzten wir „Maps.me“, eine großartige Erfindung, die uns auch ohne Internet auf dem Stadtplan ortet und das uns schon in Indien das Zurechtfinden erleichtert hatte. Mit dem Telefonieren klappte es nicht gleich, aber ein paar freundliche junge Leute halfen uns aus. Das half auch unserer Laune, denn mittlerweile war es halb acht und wir hatten lange nichts gegessen und der Weg zum El Cocinero war beträchtlich. Wir gingen die Calle 13 bis ans andere Ende, eine Distanz von ungefähr fünfundzwanzig quadras oder Querstraßen, die uns durch ein elegantes Villenviertel führte, in der sich auch die mit Stacheldraht gesicherte Residenz des deutschen Botschafters befand. El Cocinero ist in einem umgebauten Fabrikgebäude untergebracht. Wir warteten geduldig, bis wir an die Reihe kamen, um hineingelassen und bewirtet zu werden. Nachdem der erste Durst gestillt war, sahen wir uns genauer um. Das Restaurant ist elegant, blitzsauber und modern gestaltet, das Essen nicht besonders teuer und z. T. sehr gut. Zum Beispiel fiel bei den Rippchen das saftige Fleisch nur so von den Knochen. Aber die ganze Sache hätte auch in Los Angeles oder Miami sein können. Es fehlte das kubanische Flair. Im Stil generisch, international. Gesättigt, müde und trotzdem zufrieden fuhren wir aus dem eleganten Vedado gegen Mitternacht in jenem Bel Air zurück ins heruntergekommene Zentral-Havanna. Die Nacht war laut und schwül. Gegenüber von unserem Balkon auf der Calle Lealtad hatte jemand den Fernseher auf Nachbarschaftsnervlautstärke gedreht und schaute sich mehrfach einen alten amerikanischen film noir an, in dem die spätromantisch angehauchte Filmmusik ominös Todessehnsucht suggerierte und das erotische Atmen der Hauptdarstellerin sich wiederholt in einer Kadenz von Angstschreien entlud. Das letzte Mal, dass mich diese Sequenz aufweckte war gegen 2:45. Miriam schlief überhaupt nicht. Manchmal stand sie am Balkon und zeichnete, manchmal lag sie im Gästebett und las, manchmal war sie überhaupt nicht im Zimmer. Es war das Zahnweh, das ihr den Schlaf raubte; eine lange Geschichte, die trotz Behandlungen in Kerala und Boston offenbar noch nicht zu Ende ist.) So endete der erste und begann der zweite Tag.