Heute morgen (Montag) dann Frühstück, nicht in der casa particular, wo Maria uns freundlicherweise einen Kaffee (gratis) servierte, sondern auf der La Zanja. Erst gingen wir zu der kleinen Stube, die uns gestern so gefallen hatte. Dort hatten sie zwar Eier für ein Omelette, aber weder Brot noch Gemüse. So schickte uns die Chefin über die Straße zu einer ähnlichen kleinen Cafeteria, wo uns sehr freundlich geholfen wurde. Wir bekamen Spiegelei, Omelette, einen Teller mit Streifen von grünem Salat und Weißkohl (col), den wir mit Essig und Salz nachwürzten. Dazu gab es ein weiches Brötchen. Insgesamt nicht schlecht, frisch und so ziemlich was wir erwartet hatten. Der klitzekleine Kaffee war ausgezeichnet, Bedienung wirklich lieb, und der Preis ungefähr die Hälfte von dem was wir in der Touristenabsteige gegenüber am Tag zuvor bezahlt hatten. Die Preise waren hier in Nationalpesos angegeben. Die Bedienung rechnete unsere Zeche in Touristenpesos um und ging zur Nachbarin um unser Wechselgeld zu holen. Wir fragten sie noch nach der nächsten Bank, und sie schickte uns dann mit einem „Felicitaciones“ auf den Weg. Das überraschte uns. Wir verstanden nicht, wozu sie uns gratulierte. Vielleicht war es der Muttertag. Ich spekulierte, dass sie mithilfe der Santeria in unsere Herzen geschaut und dort entdeckt hatte, dass wir eine beträchtliche Hürde genommen hatten. Wir waren nicht mehr so durcheinander wie am Morgen, als wir unausgeschlafen und ernüchtert mit dem Gefühl aufgewacht waren, nicht mehr zu wissen, was wir hier eigentlich wollten. Anders als in Indien hatten wir hier niemanden, der uns an die Hand nahm und sich um alles kümmerte. Wir fühlten uns von der Verantwortung für unsere eigene Zufriedenheit überwältigt. Dann waren wir in dieser kleinen Enklave menschlich reicher Beziehungen gelandet, in der man miteinander großzügig und freundlich umging und einander aushalf. Wir bezahlten einheimische Preise und fühlten uns nicht mehr bloß als wandernde Dollarscheine. Havanna hatte uns die Tür einen Spalt geöffnet und uns ein anderes Gesicht gezeigt. Vielleicht deshalb die „felicitaciones“: Glückwunsch! Ihr seid angekommen.
El Centro de Habana, zwischen Altstadt und Vedado, hat – auf den zweiten Blick –eine unglaublich vielfältige Architektur. Die Gebäude sind zum großen Teil bewohnt, zum Teil neu renoviert, zum Teil billig und geschmacklos aufrechterhalten und umgebaut. Dazwischen gibt es unbewohnte Ruinen. So ein wenig wie Berlin vor der Wiedervereinigung.
Die Türen und Fenster sind vielfach offen und man sieht das häusliche Treiben in den Eingängen und Höfen. Menschen lehnen sich aus ihren Fenstern und über ihre Balkone und schauen auf die z. T. engen Straßen herab, in denen Menschen jeden Alters, Geschlechts und Hautfarbe herumlaufen, stehen oder sitzen, allein oder in Gruppen. Trotzdem kommt es einem irgendwie leer vor. Die Straßen, Gehwege und Rinnen sind gekehrt. Müll sammelt sich oft an den Straßenecken an, bevor er auf einen Laster geschaufelt und abgekarrt wird. Es sieht dennoch alles reingefegt aus, ohne deshalb sauber zu sein. Mehr wie eine Abwesenheit, dessen was man angesichts der allgemeinen Armut erwarten würde. Es liegt aber wenig herum. Keine Plastiktüten oder Bananenschalen. Irgendwie leer. Es gibt kaum Straßenhunde und natürlich laufen hier die Kühe nicht wie in Indien frei herum. Wir hören ab und zu einen Hahn krähen. Überall gibt es Alkohol zu kaufen und man trinkt hier auf der offenen Straße. Heute Morgen sahen wir in einem Eingang einen Betrunkenen, der auf einer Treppe ausgebreitet seinen Rausch ausschlief. Es ist ein bisschen wie in der anti-kommunistischen Fabel von der Animal Farm. In den runtergekommenen Häusern der vertriebenen unternehmerischen Mittelschicht wohnen Leute, die die Häuser nicht gebaut haben und von denen die meisten kein Geld haben, um diese bürgerlichen Häuser stilgemäß instand zu halten oder sie standesgemäß zu möblieren. Eine Gesellschaft von unterprivilegierten Hausbesetzern. Alles scheint irgendwie im Wartezustand. Mittlerweile geht das Leben weiter. Die Leute kommen mehr schlecht als recht zurecht. Es fehlt an allem. Wohl denen, die von ihren Verwandten im Ausland unterstützt werden.
Am Nachmittag trafen wir uns mit David Guerra, Exilkubaner, Rechtsanwalt und nebenberuflicher Kurator in Boston. Unser Treffpunkt war ein Brauereiausschank auf der Plaza Vieja, im elegant renovierten östlichen und ältesten Teil der Altstadt. David hatte seinerzeit zwischen Harvard und Kuba wählen müssen und durfte wegen seiner Entscheidung für Harvard sieben Jahre nicht in sein Heimatland zurückkehren. Als Einzelkind fühlte er sich seiner Mutter gegenüber jahrelang besonders schuldig. Vielleicht bemüht er sich deshalb so rührig um den amerikanisch-kubanischen Kulturaustausch. David beantwortete geduldig unsere z. T. sehr allgemeinen Fragen über die kubanischen Verhältnisse und gab uns etliche konkrete Empfehlungen. Er sprach von den Bemühungen der kubanischen Regierung um den Erhalt und den Wiederaufbau des ältesten Stadtteils von Havanna. Er betonte dabei, dass die Regierung sich darum bemühe, die Bewohner dieses Stadtteils nicht zu vertreiben. Dieselben Leute ziehen nach der Renovierung wieder in dieselben Wohnungen ein und ihre Kinder besuchen weiterhin dieselben Schulen. So soll Alt-Havanna eine lebende Stadt bleiben. Wie wir später bemerkten, bezieht sich diese lobenswerte und kostspielige Initiative nur auf den touristisch erschlossenen Teil Alt-Havannas, nicht auf den ärmeren Stadtbezirk, der sich südwestlich an die Altstadt anschließt. Die Regierung nimmt die Mittel für ihre aufwendigen Renovations- und Neubauprojekte aus der z. T. direkt betriebenen, z.T. indirekt besteuerten Tourismusindustrie. Der Tourismus ist die Hauptquelle für das devisenarme Land. Ohne Hilfe aus dem Ausland können weder die Kubaner noch der kubanische Staat wirtschaftlich überleben. Seit dem Fall der Sowjetunion fehlt es an zuverlässiger ausländischer Beihilfe für den Staat. Das Chaos in Venezuela, von dessen Erdöllieferungen Kuba abhängig ist, hat ebenfalls unmittelbare Folgen. Die Planwirtschaft funktioniert hier ebenso schlecht wie in anderen sozialistischen Ländern. Das z. T. immer noch anhaltende US Embargo, die ungeklärte politische Zukunft, aber vor allem der Mangel an Devisen hindert Investoren aus dem Ausland, sich ernsthaft in Kuba zu engagieren. In der Zwischenzeit florieren die grauen Märkte. Durch den Tourismus und die damit verbundene zweite Währung, der CUC oder konvertible Peso (divisas), entsteht eine neue Mittelschicht. Ein Taxiunternehmer verdient hier das Vielfache eines Universitätslehrers oder eines Neurologen.